0

Überschrift

Ethik des Wissens - Poetik der Existenz, IMD 421

Erschienen am 11.11.2014, Auflage: 1/2015
18,00 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783883963655
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 1.9 x 17 x 12 cm
Lesealter: 0-99 J.
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Was macht heute eigentlich die Studierenden aus? Und ein Studium aus ihnen? Alma Mater Academia: Nurmehr ein Blinder Fettfleck des Denkens, eine Seniorenresidenz der Kritik? Was macht heute eigentlich die Kunstbetriebler aus? Und die Kunstbetriebshuberei aus ihnen? Contemporäry Kunstworld: Nurmehr ein Watteweitwurfwettbewerb, eine rostige Junggesellenmaschine, die den Kapitalstrich auf- und abfährt? Und was macht heute eigentlich all das aus dem, der darüber schreibt? 'Überschrift' betreibt eine sectio accelerata des systematischen Verschnitts aus Kunstbetrieb und universitärem Diskurs, aus ästhetischer Kritik und kritischer Ästhetik, kurzum: eine Obduktion der politischen Theorie und Ästhetik. Darüberhinaus eine Autopsie des Schreibens über all dies und des Überschreibens darin: Weiter zu einer Politisierung des akademischen Denkens und seiner Settings, einer Politisierung künstlerischen Arbeitens und seiner Rahmen. Zu einer anderen Ethik des Wissens und einer anderen Poetik der Existenz.

Autorenportrait

Armen Avanessian (*1973), Literaturwissenschaftler und Philosoph. [www.spekulative-poetik.de]

Leseprobe

Wichtig ist nicht, zu wissen, ob der Mensch ursprünglich gut oder böse ist, wichtig ist, zu wissen, was das Buch ergeben wird, wenn es ganz und gar gegessen sein wird. Jacques Lacan Alleine am Schreibtisch sitzend, in einem von der Außenwelt möglichst abgeschirmten Raum, ungestört, konzentriert und geschützt vor den Ablenkungen des alltäglichen Lebens, so ungefähr sieht ein gerne tradiertes Ideal schriftstellerischer Tätigkeit aus. In Wirklichkeit sind wir alle eher ständig unterwegs (auf Forschungsreise, im Urlaub, zu einer Gastprofessur oder auf dem Weg in ein früheres Zuhause wie ich jetzt gerade, schon am Stadtrand von Berlin). Und in dieser unserer Realität arbeiten und schreiben wir in jeder möglichen Situation, machen Notizen, exzerpieren, korrigieren, beenden noch schnell einen Vortrag, oder - wie in diesem Moment im Zug - beginnen mit einer Einleitung für ein Buchmanuskript, das in den nächsten drei Wochen in Wien aus einem Haufen von Kapiteln entstehen soll, das ich ein paar Freunden zu lesen geben will. Jeder Ort kann zu einer Schreibszene werden, die ganze Welt ist dem Schreibenden ein möglicher Hintergrund, der in den Vordergrund rückt oder in den Text selbst eintritt; dann fließt alles in das Geschriebene ein, ohne notwendig im Text aufzutauchen. Diese zwei Pole halten alles Schreiben - wenn auch nicht immer die Schreibenden - in Spannung: beim Schreiben auf sich selber zurückgeworfen, aber dadurch zugleich möglichst weit entfernt von sich, von seinem Ich, zu sein. Denn wenn ich schreibe, tausche ich mich potenziell mit allen anderen aus, habe allen etwas zu sagen. Und treibt nicht jede Isolation die seltsame Blüte der Megalomanie hervor, nicht nur zu den anderen über möglichst alles zu sprechen, sondern auch gleich alles zu verändern - wer wollte nicht irgendwann einmal mit seinem Schreiben die Welt oder seine Umgebung verändern? Nicht anders als literarisches Schreiben zielt auch Philosophie auf Konversion oder den Eintritt in eine andere Welt, wobei wir den Wirklichkeitsgehalt von Veränderung etwa daran messen können, ob die (uns bis dahin bekannte) Vergangenheit unverständlich und dabei zu einer anderen wird. Ich entwerfe mich in die Zukunft, blicke zurück in die Vergangenheit, in meine Gegenwart, die mir kontingent geworden ist. Dieses Buch wird wieder ein anderes, und ich möchte mit diesem Buch wieder ein anderer werden. Dass alles auch ganz anders hätte wer¬den können, diese spekulative Erfahrung ist ganz materialistisch zu verstehen, geradezu das Gegenteil jener idealistischen Idee, das Denken könne die Welt aus sich heraus verändern oder sie vollständig begreifen. Wir alle sind Zeitgenossen unterschiedlicher Gegenwarten. Ein zeitgenössisches Buch zu schreiben, unsere contemporaneity zu verstehen, dass es auch meine andere oder andere Gegenwarten gibt, zwingt zu einem genealogischen Blick zurück. Nicht um die eine andere, richtige Vergangenheit zu finden (dann hätte ich ein akademischeres Buch schreiben müssen, in dem sich meine Beobachtungen und Erregung leicht in einer Überfülle an Quellen und Forschungspositionen verloren hätten), sondern um etwas von der Kontingenz einer im heutigen Berlin wirklich gewordenen Vergangenheit ans Licht zu bringen. Und auch wenn ich mich in diesem Buch nicht an den unter Historikern üblichen methodischen Ägyptizismus - von der Genealogie spricht Foucault dagegen als Karneval großen Stils - halte, sind meine Ausflüge in die Genealogie der (heute noch gültigen) wissenschaftlichen Moral ebensowenig Ausdruck eines unverantwortlichen Relativismus wie mein (wissens)ethisches Experiment, in einer anderen Gegenwart zu leben. Schon beim Schreiben dieses Buches habe ich begonnen, in einer anderen Gegenwart zu leben, mich in eine andere Gegenwart einzuleben und eine andere Zukunft für mich lebbar zu machen. Ethik als Frage nach dem richtigen Leben. Weniger Angst haben: sich von der Kontingenz der Zukunft nicht erpressbar machen, sondern von ihr aus einen anderen Blick (zurück) auf die Gegenwart werfen. Und der spekulative Blick in die Vergangenheit hat mir während des Schreibens geholfen, mich in einer anderen Gegenwart zurechtzufinden, zu einer anderen Gegenwart zu finden. Um meine Gegenwart zu verändern, muss ich ihr eine andere Vergangenheit schreiben. Dem Begehren des Schreibens, sich anders in der Welt zu verorten, ist dieses Buch gewidmet. Es handelt von der Wahrheit, die entsteht, wenn ein Subjekt die Verantwortung für sein Denken, seine Erfahrungen, seine Auseinandersetzungen übernimmt, wenn es von diesen neugeschrieben oder überschrieben wird. Wissen wird so verstanden wahr erst dort, wo das Gewusste mich und die Welt transformiert (die ontologische Trias Denken-Subjekt-Welt). Das veränderte Ich ist dann Teil einer neuen Welt (die deiktische Trias Ich-Hier-Jetzt). Sich neu im Ganzen zu verorten, meint, von Referenz auf inference (Robert Brandom) umzustellen - wahres Wissen bildet nicht die Gegenwart ab, sondern zieht uns in eine einstweilen unbekannte Zukunft, vor der wir unser gegenwärtiges Handeln zu rechtfertigen haben (werden). Die Frage ist dann nicht mehr, wie die Welt war, sondern ob sie wahr ist, indem ich die Verantwortung übernehme für das, was ich darin jetzt schreibend bin. Wenn ich mich neu in der Welt verorte, wenn ich mich in einer (veränderten) Welt zu lokalisieren verstehe, wenn sich der rekursive Zirkel von Wissen, Singulärem und Allgemeinem zu einem anderen Ganzen geschlossen hat, zu einem ganz anderen Wissen, dann wird sich mein Wissen bewahrheiten. Diese Transformation von Wissen in Wahrheit, so die These dieses Buches, hat vornehmlich im Schreiben ihren Ort, in einem Überschreiben, in einer Selbstüberschreibung des Subjekts, das im Zuge dessen ein anderes geworden ist. Nicht so sehr wenn ich über mich schreibe, sondern wenn ich mich selbst überschreibe, wird mein ego zu einem alter ego. Die ethische Komponente des Wissens lässt sich somit nicht unabhängig von einer Poetik der Existenz begreifen (die sich gerade darin von einem ästhetischen self-fashioning und seinen belanglosen Neuerungen unterscheidet). Ich kann mich nur anders in der Welt verorten, wenn ich aktiv zu einer Wahrheit finde, etwa wenn ich im Schreiben aus dem mir zur Verfügung stehenden namenlosen Wissen über die Welt meine Wahrheit produziere. Diese poetische Herstellung - poiesis in seiner ursprünglichen Bedeutung, verstanden als Erzeugung einer Wahrheit - meint weniger ein Vor-mich-hin-Stellen, als dass ich etwas in die Welt hineinstelle, mich in eine andere Welt stelle.

Aktuelles

Bücherlieferservice!

Für alle die sich nicht so gerne aus dem Haus bewegen möchten oder können, bringen wir die bestellten Bücher mit unserem Bücherbus oder dem Bücherbollerwagen gerne zu Hause vorbei.

Einfach per Telefon oder WhatsApp-Nachricht (02102/26095), E-Mail oder hier über den Webshop bestellen. Wir notieren uns die Adresse und bringen Euch die Bücher am nächsten Tag vorbei. Die Bezahlung erfolgt entweder bar oder via PayPal oder Vorauskasse.

Liebe Grüßemail